Der Kreis schließt sich

Gedanken an meine Erinnerungen

Vor über 20 Jahren bin ich als Teenager mit meinem Pony Marina und Cara, dem Pony meiner Mum in den skandinavischen Wald aufgebrochen, um das Fürchten zu verlernen. Seither ziehe ich regelmäßig wieder los, immer dabei meine Seelenponys. (Und mein Zelt, Bücher, Schokolade, Messer, Feuer, Angelzeug und und und … bin ja kein Höhlenmensch)

In mein erstes Tagebuch zeichnete ich gleich auf dieser ersten Reise das Bild einer selbstgebauten Blockhütte.

Ich wollte sie irgendwann irgendwo in den weiten Wäldern Schwedens bauen, um immer einen Ort zu haben, der mich und meine Lieben sicher umhüllt. Der Abstand schafft, zu all den Dingen dieser schnellen Welt, die mich mitreißen und umherwirbeln, mich zu wunderschönen und gleichsam furchtbaren Plätzen bringen.

Die mich immer bangen lassen meine Mitte zu verlieren. Diese Mitte, in der dieses riesige Herz schlägt, das meinen Rhythmus bestimmt und mich Musik lehrt.

Das mich wandern lässt, weil es keinen Stillstand überlebt.

 

Das mich wachen lässt, damit ich nicht verpasse, wie großartig diese Welt zwischen all ihren Schatten ist. 

Auf meiner ersten Reise erlitt ich nach ca. 4 Wochen Schiffbruch. Meine Ponys und ich strandeten auf einer kleinen Lichtung. Die Ponys waren verletzt und konnten nicht weiter. Ich hatte mir versehentlich ein Messer in den Oberschenkel gerammt und konnte nicht laufen. Es ging uns miserabel. Alles tat weh, war wund und elend. Nach einigen Tagen hatten die Ponys kein Gras mehr, das sie fressen konnten und die Situation war mehr als angespannt. Ich humpelte jeden Tag zum nahen Waldweg, um dort winzige Erdbeeren zu sammeln.

Die “alte” Frau mit Hut

Dort traf ich eines Tages auf eine Frau. Ihr freundliches Gesicht verzog sich zu tausend kleinen Lachfältchen, als sie mich unter ihrem Sonnenhut anlächelte. Sie bot mir nach kurzem Gespräch an zu ihnen umzuziehen, sie hätten viel Land am See, dort gäbe es Gras und ich hätte meine Ruhe, da ein großer Wald die Wiese vom Haus trennen würde.

Sie kam mir an dem Tag vor, als hätte der Himmel sie geschickt und ich zog humpelnd mit den Ponys los.

 

An meinem Lieblingsplatz...c Stephen Haberland

An meinem Lieblingsplatz… c Stephen Haberland

Die freundliche “alte” Frau war Ann-Sofi, ihr Mann hieß Rolf. Beide waren wahrscheinlich erst 50, aber aus meiner Sicht einer gerade mal 18jährigen kam mir damals jeder “alt” vor 🙂

An diesem Tag begann meine bis dahin von Angst und Sorge geprägte Reise durch die Wildnis sich zu wandeln. Angekommen bei Ann-Sofi und Rolf heilten meine Ponys und ich, und nach weiteren 7 Tagen brachen wir erneut auf. Und unser Abenteuer, dass mein ganzen Leben bestimmen würde, begann erst richtig. (Wer mehr darüber erfahren möchte, hier ist das Buch dazu)

In meinem Herzen gab es immer diese Erinnerung an das schwedische Paar und weil ich so fest geglaubt hatte, sie seien damals schon älter gewesen, bin ich nie auf den Gedanken gekommen, wir würden uns  noch einmal wiedersehen.

 

2018 – 20 Jahre sind vergangen

Wieder bin ich auf meiner Reise verunfallt. Das könnt ihr hier nachlesen.

Bevor ich mich auf den Rückweg mache, beschließe ich all die alten Plätze meiner ersten Reise, die mir so wichtig waren aufzusuchen. Ich reite den ganzen Tag und Freudentränen mischen sich von Ort zu Ort mit den Erinnerungen an Verlust und Liebe.

Auf einmal bin ich an dem kleinen alten Holzhaus angekommen, das ich vor so unendlich langer Zeit, vor meinem ganzen Leben bis hierher, aufgesucht hatte um zu heilen. Alles sieht aus, wie damals.

Ich halte in einiger Entfernung an, denn ich möchte die neuen Besitzer nicht stören. Ausserdem heule ich seit Stunden, sie würden denken, ich sei bekloppt.

Erinnerungen an meine Marina strömen auf mich ein. Mein Seelenpony, ich sehe sie dort auf dem kurzen Rasen stehen und begeistert Gras rupfen. Ich sehe meine geliebte Cara unter ihrem Gepäckberg brav an ihrer Seite stehen. Ich sehe mich als junges Mädchen, barfuß und mit Dreck bedeckt dort stehen, ihre Stricke in der Hand.

Gerade als ich meine Püppi wenden will, um mich davonzuschleichen, spricht mich eine Stimme freundlich von der Seite an.

Es ist ein älterer Mann. Unter einem Strohhut. Er hat eine Harke in der Hand. Rolf.

Ich kann kaum beschreiben, was für ein Gefühlschaos sich entwickelte. Ich war so sicher, die beiden nie wieder zu sehen und dennoch steht er da einfach und sein Gesicht erhellt sich, als er unter meinem verquollenen Gesicht das junge Mädchen mit den Ponys wieder erkennt.

Ich sitze auf Cara, meine Marina an der Hand...dieses Foto hat Ann-Sofi vor über 20 Jahren auf meiner ersten Reise von uns gemacht...eine Rarität, denn damals gab es noch kaum Handyfotos etc...

Ich sitze auf Cara, meine Marina an der Hand…dieses Foto hat Ann-Sofi vor über 20 Jahren auf meiner ersten Reise von uns gemacht…eine Rarität, denn damals gab es noch kaum Handyfotos etc…

Er lädt mich auf das Grundstück ein, und gerade als ich vorsichtig nach Ann-Sofi fragen will, kommt sie aus dem kleinen gepflegten Haus gehumpelt. Sie geht auf Krücken. Ein Bein ist weg. Dennoch kommt sie unbeirrt die Stufen hinunter setzt sich in einen Rollstuhl und kommt über die hoppelige Wiese gerollt, als wäre sie asphaltiert. Sie strahlt. Sie hat mich gleich erkannt.

Es gibt Kaffee und Kuchen. Wie vor 20 Jahren sitze ich auf denselben Stühlen, auf demselben Platz, esse dieselben Kekse (nur in frisch :)). Die Welt hat sich weitergedreht. Beide haben Ipads und fotografieren wie wild, zeigen Fotos, erzählen Geschichten. Diesmal tauschen wir Adresse, Nummern und Socialmedia aus. Ich reise zurück nach Hause mit dem Gefühl etwas wiedergefunden zu haben, von dem ich gar nicht wusste, dass es mir gefehlt hatte.

Ann-Sofie und Rolf waren die ersten Menschen, denen ich auf meiner ersten 4-monatigen Reise durch den schwedischen Wald begegnet bin. Sie haben mir geholfen. Mir Sicherheit wiedergegeben. In einer Zeit, in der es noch kaum Handys gab, kein mobiles Internet. Keine Möglichkeit mal eben Zuhause bei meiner Familie Trost über die Entfernung zu finden. Ich war alleine. Und diese Beiden waren auf einmal für mich da.

 

2023 – Der Kreis schließt sich

Meine Blockhütte habe ich (bis jetzt ;)) nicht gebaut.

Über die Jahre sind meine Schwester, ihr Mann und ich sehr eng zusammengewachsen. Ich fahre noch immer regelmäßig auf meine Wildnis-Trips. Aber auf diesen Reisen bin ich bewaffnet mit Karten, GPS, Handy und – meiner Schwester. Sie ist immer für mich erreichbar. Wenn ich verunfalle, navigiert sie mich aus der Ferne zu einem Krankenhaus mit Pferde-Parkplatz. Sie gibt mir das Gefühl in der Weite nie verloren zu gehen und ich weiß immer, sie passen beide auf mich auf.

Ich mache diese Reisen seit so vielen Jahren allein mit meinen Ponys.

Aber natürlich bin ich nie alleine.

Egal wie groß die Welt um mich herum ist, egal wie tief der Wald und wie weit der Weg. Zuhause wartet meine Familie auf mich. Sie begleiten jeden Schritt, den ich mache, und sind für mich da, wenn ich sie brauche. 

 

Und heute – wir drei, meine Schwester, mein Schwiegerbruder und ich, träumen diesen Traum vom Frei Sein nun gemeinsam. Da wir zu dritt nicht in mein kleines Zelt passen, haben wir es uns in diesem Sommer ermöglicht ein altes, rotes Schwedenhaus in der Nähe des großen Vänern zu kaufen.

Dort, wo meine Reise begonnen hat.
Dort, wo Schweden am schönsten ist.

Dort, wo mein Herz mich seit über 20 Jahren in den Wald zieht.
Genau dort, wo ich meine Erinnerungen lebendig wiederfinde und sich alles vereint.

Gegenwart

Wir haben den Schlüssel erst seit kurzer Zeit. Wir haben noch kaum Möbel, kein Internet und keinen Handy-Empfang (wahrscheinlich das einzige Empfangsloch in ganz Schweden). Kein warmes Wasser, keine Heizung außer dem Kamin. Es ist wunderbar.

Ich fahre raus, bis ich Empfang habe und rufe an.

An unserem dritten Tag im ersten eigenen und gemeinsamen Haus, fährt ein Wagen die Auffahrt hoch. Wir haben einen Tisch nach draußen gebracht und Kekse gekauft. Es gibt sogar Kaffee, denn Strom ist noch angeschlossen.

Die Türen des Elektroautos öffnen sich. Zwei Strohhüte steigen aus.

 

Dieses Mal über Gesichtern mit echten kleinen Runzeln. Über 20 Jahre später begrüßen meine Schwester, ihr Mann und ich unsere ersten Gäste und heißen sie herzlich willkommen, auf unserer grünen Wiese, in unserem eigenen kleinen Schwedenhaus.

 

Die Menschen, bei denen ich vor so langer Zeit als Fremde willkommen war. Mein Kreis schließt sich.

Ich bin angekommen. 

Natürlich heule ich wieder. Aber Ann-Sofi und Rolf kennen mich eh nur in blutjung – und in verquollen 🙂

Ich kann mein Glück noch immer kaum in Worte fassen… aber sobald ich sie wiedergefunden habe, schreibe ich euch wie es dort weitergeht… <3

Marinas Eisen und das erste Eisen von Nocona von unserer ersten gemeinsamen Reise in den schwedischen Wald..

Eure Vaile, Nocona, Nuri und im Herzen immer dabei meine Marina

 

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Franziska
6 Monate her

Liebe Vaile, ich bin gerade über tausend Umwege und Zufälle auf diese Seite hier gestoßen und deine Geschichte hat mich sehr berührt.
Wie mutig du schon so früh warst und es noch immer bist! Was für eine Freude. Ich hoffe du und “die Strohhüte” werden noch viele viele weitere schöne Kaffeekränzchen gemeinsam abhalten können. Alles liebe für dich!

Rico
8 Monate her

Super, so soll/muss es sein.

Gabi Gerlach
8 Monate her

Wie wunderbar und ich weine gerade mit. Gibt es etwas berührenderes, als wenn der Seelenort zu einem zuhause wird?
Ich drücke euch
Liebe Grüße Gabi Gerlach

Katharina Grube
8 Monate her

Ich weine vor Freude für dich mit. Wie schön ❤️❤️❤️